13 Liberale gegen radikale Demokraten (1840 bis 1870)
Politische Ungleichbehandlung zwischen Stadt und Landschaft
Die meisten Industriellen in Uster waren Angehörige der Liberalen: Sie orientierten sich an den Ansichten der seit den 1830er Jahren dominierenden liberalen Strömung, die im Gegensatz zu den Konservativen stand. Politische Parteien im heutigen Sinn gab es noch nicht. Unter dem Zürcher Wirtschaftsmagnaten Alfred Escher nahmen die Liberalen ab den 1840er Jahren allerdings einen stark bürgerlich-elitären Standpunkt ein; so manche Forderung der Zürcher Landschaft wurde vernachlässigt. Hauptkritikpunkt war, dass die Zürcher Landschaft in der Kantonsregierung zu wenig Durchsetzungskraft besass. Mangels eines Initiativrechts konnten eigene Anliegen politisch kaum durchgesetzt werden. Schon 1830 war die zahlenmässige Diskrepanz zwischen Vertretern der Landschaft und jener der Stadt Zürich so eminent, dass in Stäfa zu einer grossen Kundgebung nach Uster geladen wurde: dem Ustertag vom 22. November 1830 (Ustertag HLS – Ustertag Homepage Uster). Er war ein so grosser Erfolg, dass die Regierung zurücktrat und eine neue Verfassung nach den Vorschlägen aus Uster wählen liess. 1831 trat die erste liberale Kantonsverfassung in Kraft.
Verzweifelte Heimweber
Eine weitverbreitete Kritik am Liberalismus war auch die Vernachlässigung der Volks- gegenüber der Hochschulbildung. Und zuletzt auch die einseitige Förderung der mechanisierten Industrie. Letzteres führte 1832 zum sogenannten «Brand von Uster», als im November verzweifelte Heimweber aus Bauma und Bäretswil nach Uster demonstrierend vor die Corrodische Fabrik (später Trümpler) zogen und sie dabei – ob aus versehen oder absichtlich ist umstrritten – in Brand steckten. Sie fürchteten, die Mechanisierung würde ihnen die Arbeit nehmen, was auch den Tatsachen entsprach. In der Folge vermochte sich die mechanisierte Baumwollweberei in Uster nicht durchzusetzen.
Demokratische Bewegung
Diese beiden Punkte, also die Vernachlässigung der Volksschulbildung und die Ungleichbehandlung zwischen Stadt und Landschaft, führten in Uster und anderen industrialisierten Ortschaften, wie etwa Winterthur, zu einer direkt-demokratischen Opposition, die vor allem unter den Lehrern stark war. Die Lehrer operierten an der Schnittstelle von Fabrik und Familie und strebten eine Verbesserung der Arbeitsumstände für Kinder an. Einer von ihnen, Johann Caspar Sieber, ein Sekundarlehrer, wurde zwischen 1850 und 1869 zu einer zentralen Figur der oppositionellen radikalen Demokraten in Uster. Er forderte, dass die Arbeitsstunden für Kinder in den Fabriken gesenkt würden. Damit handelte er nicht im Sinne der Industriellen und auch nicht im Sinne so mancher Eltern, die auf den Verdienst ihrer Kinder angewiesen waren. Ausserdem forderte Sieber eine Reformierung der Volksschule, die noch immer stark von kirchlich-dogmatischen Grundsätzen durchzogen war.
Neue Verfassung
Nebenbei sollte die politische Bildung gefördert werden. Sieber und seine Mitstreiter erkannten, dass dies nur mit Hilfe eines politischen Umbruches geschehen konnte und machten sich daran einen Entwurf einer neuen direkt demokratischen Verfassung mit Referendums- und Initiativrecht auszuarbeiten und ihn mit Hilfe der Presse bekannt zu machen. Das Volk solle der Souverän sein und nicht seine «unfähigen» Repräsentanten in den Räten. Uster war eines der treibenden Zentren dieser demokratischen Bewegung. Im Winter 1867 wurden wieder grosse Volksversammlungen veranstaltet; in Uster fand am 15. Dezember 1867 mit zwischen 3000 und 6000 Menschen mit Abstand die grösste statt. Die regierenden Liberalen kamen nicht umhin, den Verfassungsentwurf entgegenzunehmen und zur Abstimmung vorzulegen. 1868 wurde die neue Kantonsverfassung angenommen und 1869 in Kraft gesetzt. Sie war Vorbild für weitere Kontonsvefassungen der Schweiz und sorgte auch im Ausland für Schlagzeilen. Auf ihr basiert die heutige Verfassung noch immer.